Postkolonialismus und Antisemitismus

  • Tagung/Versammlung

Bericht von der Tagung in Speyer

Von links nach rechts: Studienleiter Georg Wenz (Evang.Akademie der Pfalz), Prof. Dr. Doron Kiesel  (Zentralrat der Juden in Deutschland), Mariette Afi Amoussou (Schwarze Akademie Mannheim), Dr. Uwe Gräbe (Evangelisch missionieren Stuttgart) bei der abschließenden Podiumsdiskussion. Foto: Dr. Stefan Meißner

Blick auf das Podium bei der Abschlussdiskussion der Tagung "Kolonialismus und Antisemitismus" am 24. Juni 2024 in Speyer.

Postkolonialismus und Antisemitismus

Am 12.6.2024 im Martin-Luther-King-Haus in Speyer fand die Tagung zum Thema „Postkolonialismus und Antisemitismus“ statt. LAG-Sprecher Frank-M.Hofmann nahm teil. Referent:innen waren Prof. Dr. Doron Kiesel vom Zentralrat der Juden in Deutschland, Mariette Nicole Afi Amoussou von der Schwarzen Akademie Mannheim und Dr. Uwe Gräbe vom Evangelischen Missionswerk Stuttgart.Der Referent der Evang. Akademie der Pfalz als Mitveranstalter, Herr Georg Wenz, berichtet über diese Tagung, die viele unserer LAGE-Mitglieder interessieren dürfte, folgendes:
Die Tagung war so konzipiert, dass über Referate ein Bewusstsein für aktuelle Formen des Antisemitismus sowie für die Anliegen postkolonialer Kritik geschaffen werden sollte. In einem dritten Referat stand in der Verbindung von analytischer Reflexion und persönlichen Erfahrungswerten die palästinensische Rezeption der beiden Großnarrative Postkolonialismus und Post-Shoah im Mittelpunkt. Zwei moderierte Gesprächsrunden, zunächst zwischen Prof. Kiesel und Frau Amoussou und am Ende in der Konstellation der drei ReferentInnen, sollten kritische Punkte aufgreifen und mit dem Publikum diskutieren.
Dass die Veranstaltung noch im Zeichen der Nachwirkungen von Protestcamps an Universitäten stattfand, in deren Verlauf es auch unter Rekurs auf die postkoloniale Imperialismuskritik zu teils antisemitischen Äußerungen und Einschüchterungen von jüdischen StudentInnen und SprecherInnen kam, wurde aus dem Beitrag von Prof. Kiesel deutlich. Dieser ordnete die aktuellen Tendenzen und Erscheinungsformen von Antisemitismus zunächst in dessen Geschichte ein und sensibilisierte damit für das Ausmaß des Bedrohungspotenzials. Später sollte Dr. Gräbe dieses noch einmal vor Augen führen, indem er die Massaker der Hamas als weiteren Kulminationspunkt der Vernichtung jüdischen Lebens herausstellte und ebenso wie Kiesel im Vernichtungsziel die Singularität der Shoah gegenüber anderen Formen von Rassismus aufzeigte.
Kiesel zeichnete das breite Spektrum aktueller gegen Juden gerichteter Vorfälle nach, beginnend von subtilen Vorbehalten gegenüber Juden und öffentlich geäußerten Ressentiments bis zu hasserfüllten Attacken. Auch verwies er auf die Notwendigkeit, jüdische Einrichtungen wie Synagogen oder Kindergärten unter Polizeischutz zu stellen und die Folgen, die dies für ein Gemeindeleben, aber auch für die Psyche habe. Die Angriffe und die Forderung nach Auslöschung Israels auf Demonstrationen habe das Sicherheitsempfinden von Juden in Deutschland massiv beeinträchtigt und zu einer Retraumatisierung geführt. Zudem verstärke das Gefühl der Empathielosigkeit in einigen Teilen der Gesellschaft das Unbehagen in einem Land zu leben, in dem die Staatsräson des „Nie wieder“ sich hochgradig anfällig zeige.
Dem präventiven Potenzial von Bildungsansätzen begegnete Kiesel, selbst Wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung des Zentralrats der Juden in Deutschland, skeptisch. Unbestritten sei die bleibende Notwendigkeit der intensiven Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Rassismus und Kolonialismus. Insbesondere in der Lehrerausbildung seien die Kenntnisse zu vertiefen. Ohne den Konnex der kognitiven Ansätze zur emotionalen Verarbeitung liefen diese aber ins Leere. Der Uminterpretation des Zionismus in eine koloniale Bewegung erteilte er eine klare Absage. Unterschlagen würden die Verfolgungen in Europa, vor deren Hintergrund die zionistische Idee als Suche nach einem Schutzraum geboren wurde.
Dieser Korrektur eines der Hauptmotive propalästinensischer Demonstrationen stimmte Frau Amoussou zu, die sich in ihrem Referat dem postkolonialen Blick und damit auch den Merkmalen des Kolonialismus widmete. Auch Frau Amoussou begann mit der Einbettung der postkolonialen Debatte in den geschichtlichen Zusammenhang und zeigte auf diese Weise Kontinuitäten im Konstrukt von „schwarzsein“ und dessen rassistischer Verwendung auf. Diesem, verstanden auch als Ausdruck andauernder globaler Ungerechtigkeit, setzte sie das „Schwarzsein“ entgegen. Dessen Großschreibung symbolisiere die Aufarbeitung kolonialer Traumata, deren Anfänge sie im 15. Jahrhundert nachwies. Klassische Elemente einer eurozentristischen Überlegenheitsideologie lieferten nicht zuletzt Philosophen der Aufklärung im Modell der Stufenpyramide kultureller und zivilisatorischer Einordnungen. In ihrem Fokus auf Afrika attestierte sie eine „koloniale Amnesie“. In ihrem Verweis auf Parallelen zwischen dem Erleben antisemitisch Verfolgter und dem Konstrukt des „schwarzseins“ mit seinen Elementen der Entmenschlichung und der Individualitätsverweigerung sowie der Kolonialgeschichte mit ihren noch unzureichend aufgearbeiteten genozidalen Exzessen verzichtete Amoussou indes auf eine Gleichsetzung. Damit widersprach sie zugleich der Gleichsetzung von Antisemitismus und Rassismus. Gleichwohl litten beide, Juden und Schwarze, in Deutschland unter dem Gefühl der Nichtzugehörigkeit sowie unter latenten und konkreten Bedrohungen.
In der folgenden Diskussion zwischen Fr. Amoussou und Prof. Kiesel betonte erstere noch einmal, dass es zwar wiederkehrende Muster bei den Unterdrückungsformen Kolonialismus und Antisemitismus gebe, Vergleiche jedoch immer die Gefahr bergen, die Individualität von Leiderfahrungen zu nivellieren. Hinsichtlich der Aufarbeitung der historischen Verbrechen zeigte sie sich recht hoffnungsvoll und betonte die Wichtigkeit von Bildungsarbeit. Hatte schon Victor Klemperer in seinem bahnbrechenden Werk LTI das „Wording“ der Nationalsozialisten analysiert, so argumentierte Amoussou in ähnlicher Weise aus postkolonialer Sicht und forderte die Entmachtung tradierter sprachlicher Abwertungen. Auch differenzierte sie zwischen Verantwortungsübernahme gegenüber den unter den Folgen historischen Unrechts Leidenden und Mitleid.
Hinsichtlich der kritischen Reflexion der Metaebene aktueller postkolonialer Israelfeindschaft zeigte sich Prof. Kiesel eher skeptisch. So werde auf Seiten der politischen Linken mit der Ausblendung der Schuldabwehr in der postkolonialen Schuldzuweisung die Singularität der Shoa geleugnet. Damit entfalle die eigene Verantwortung und es eröffne sich in der Folge ein Einfallstor, geschichtliche Zusammenhänge aus dem Blick zu verlieren.
Obwohl Prof. Kiesel und Fr. Amoussou unterschiedliche Opfergruppen repräsentierten, trat an keiner Stelle eine Opferkonkurrenz zu Tage. Vielleicht sogar etwas überraschend gab es gegenüber den antizipierten Erwartungshaltungen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer eine beachtliche Schnittmenge an Übereinstimmungen. An vielen Punkten spürte man eine Solidarität im (Mit-)Leiden mit „dem anderen“. Beide Referenten sahen ein Kernproblem im „Othering“ („Fremd-Machung“, „VerAnderung“) und dessen Instrument der ausgrenzenden Zuschreibungen. Allerdings unterschieden sich diese Zuschreibungen. Während das Pejorative gegenüber Schwarzen in Unterlegenheitskonstruktionen wie „hilfsbedürftig“, „rückständig“ oder „unselbständig“ perpetuiert würden, träfe Juden die ganze Bandbreite an in sich widersprüchlichen Zuschreibungen: „arm“, „reich“, „primitiv“, „mächtig“ …. Auch darin spiegelt sich die Unentrinnbarkeit des Antisemitismus wider.
Dr. Gräber, u.a. ehemaliger Probst der lutherischen Kirche in Jerusalem, zeigte in seinem Referat die Unversöhnlichkeit auf, mit der die Transformation der „kontextuellen palästinensischen Theologie“ vonstattengehe. Hatte er selbst über dieses Thema Mitte der 1990er Jahren promoviert, so entwickele diese einen hermeneutischen Schlüssel, der jede Annäherung an den Staat Israel kategorisch ausschließe. Israel werde nach Hamas-Manier gegenwärtig nur noch in Anführungsstrichen gesetzt, um seine Delegitimierung anzuzeigen. Ausgehend von seinen Erfahrungen in der Region seit dem 7. Oktober wies Dr. Gräbe anhand von Beispielen aus Jordanien und dem Libanon die Beziehungsabbrüche zwischen Palästinensern und Israels auf, aber auch zwischen den palästinensischen Kirchen und den deutschen, mit der eine Diskreditierung weiter Teile der theologischen Debatte und der Ausschluss ihrer Protagonisten vonstattengehe. Differenzierungen im Blick auf den Israel-Begriff würden als Kontinuitätsabbruch mit der „palästinensischen Sache“ gewertet, eine „Theologie nach Gaza“ im Kampf gegen den „Siedler-Kolonialismus“ entwickelt.
Schon in dieser Bezeichnung deutet sich an, dass im Programm der „Dekolonialisierung Palästinas“ der „Theologie nach Auschwitz“ das Recht abgesprochen wird. Dr. Gräbe verdeutlichte dies anhand der Kompromisslosigkeit, mit der in der Solidaritätseinforderung mit den Palästinensern zugleich die „Entsorgung des Post-Shoah-Narratives“ vorangetrieben werde. Als Textgrundlage diente ihm die 2023 erschienene Publikation „Decolonizing Palestine“ von Mitri Raheb. Dessen Person und Werk wurde später vom Publikum kontrovers diskutiert, wobei vor allem seine älteren Positionen als Gegenargumente vorgebracht wurden. Die Bewertung der von Dr. Gräbe vorgestellten aktuellen Publikation blieb indes auf Seiten der Gegenredner aus. Einen zweiten kritischen Hinweis lieferte Gräbe auf die Ikonographie, mit der in libanesischen, jordanischen, ägyptischen, syrischen und palästinensischen Buchhandlungen Hitler als Anti-Kolonialist präsentiert werde. In den Auslagen neben Che Guevarra, Ghandi und anderen als Freiheitskämpfern verehrten Protagonisten platziert, gewinne der Judenhass eine de-kolonialistische Legitimation. Dagegen betonte auch Gräbe, dass der Antisemitismus nicht auf eine Spezialform des Rassismus reduziert werden könne.
Im abschließenden Podiumsgespräch mit Einbezug des Publikums wurden einzelne Aspekte vertiefend diskutiert, so das Kalkül der Hamas, die Zerstörung Gazas und eine Nachkriegsordnung, die Ausklammerung neuer geopolitischer Konstellationen aus der Imperialismuskritik, die Rolle Irans, Kriterien des Antisemitismus und deren Aushebelung durch Narrative wie der „Täterschuld“, Meinungsfreiheit und ideologische Instrumentalisierung, Dekonstruktion der Übertragung der Schlüsselwörter des antikolonialen Kampfes auf die Terrorakte der Hamas, linker Postkolonialismus und Diskurskultur. Mit dem Plädoyer von Dr. Gräbe, die beiden Großnarrative Postkolonialismus und Post-Shoah als zwei Befreiungsbewegungen zu verstehen, die sich auf dasselbe Territorium beziehen, endete die Tagung perspektivöffnend. Dies zu akzeptieren, erlaube anstelle verhärteten Lagerdenkens sich dem anderen zu- und trotz kontroverser Einschätzungen Dämonisierungen abzuwenden. Auf dieser Grundlage bildeten Einrichtungen und Initiativen wie das Rossing-Center aktuell die einzigen Inseln unermüdlicher Versöhnungsarbeit.

Hofmann, LAG Erinnerungsarbeit im Saarland