Kontext
Sogenannte »Zigeuner« leben seit dem Mittelalter in Europa und Deutschland. In Deutschland wurden sie 1407 erstmals urkundlich erwähnt. Viele Sinti und Roma besaßen die deutsche Staatsbürgerschaft. Bereits lange vor 1933 wurden Sinti und Roma an den gesellschaftlichen Rand gedrängt und diskriminiert. Schon im Kaiserreich und der Weimarer Republik wurden zahlreiche Gesetze, Erlasse und Verordnungen zur – wie es bereits hieß – »Bekämpfung der Zigeunerplage« eingesetzt.
Daran konnten die Nationalsozialisten nach ihrer Machtübernahme reibungslos anknüpfen, indem sie zunächst die bestehenden Gesetze restriktiv anwandten. Die sogenannten Wandergewerbescheine, die für die Ausübung eines ambulanten Gewerbes notwendig waren, »Zigeuner« verweigert, Sinti- und Roma-Kinder wurden aus öffentlichen Schulen ausgeschlossen. Später wurden Sinti und Roma von der Wehrpflicht ausgeschlossen und aus der Wehrmacht entlassen, obwohl »Zigeuner« im Ersten Weltkrieg gedient hatten und eine Reihe von ihnen bereits im Zweiten Weltkrieg eingezogen waren.
Die nationalsozialistische Zigeunerpolitik ging jedoch über die Fortführung und Verschärfung der bisherigen Gesetze weit hinaus. Das spezifisch Neue stellte die rassische Begründung für die Verfolgung dar. Zigeuner galten als eine »artfremde und minderwertige Rasse« wodurch viele ihre Existenzgrundlage verloren. Aufgrund des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums « vom 7.April 1933 wurden sie wegen ihrer »nicht arischen Abstammung« aus dem Staatsdienst entlassen. Viele Zigeuner wurden zwangssterilisiert oder als »Asoziale« verfolgt. Die »Nürnberger Gesetze« von 1935 galten auch für Zigeuner. Eheschließungen zwischen »deutschblütigen Personen mit Zigeunern, Negern oder ihren Bastarden« waren verboten.
Die Verfolgung von Sinti und Roma wurde durch die Einrichtung von »Zigeunerlagern« erheblich verschärft. Die Kriminalpolizei war zuständig für die Überwachung und Verfolgung der Sinti und Roma. 1938 war im Reichskriminalpolizeiamt in Berlin die »Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens« geschaffen worden. Die Kriminalpolizei arbeitete eng zusammen mit der 1936 beim Reichsgesundheitsamt gegründeten »Rassenhygienischen und bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle«, die von dem Nervenarzt Dr. Dr. Robert Ritter geleitet wurde. Sie hatte die Aufgabe, alle im Deutschen Reich lebenden Zigeuner zu erfassen und nach rassistischen Kriterien einzustufen sowie »Gutachtliche Äußerungen« für die Kriminalpolizei zu erstellen.
Ritter und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfassten seit März 1938 auch alle auf dem »Schwarz-Weiß- Platz« lebenden Männer, Frauen und Kinder. Mit größtem Aufwand wurden diese Menschen vermessen. Allein im Kopfbereich wurden bis zu 44 Messungen vorgenommen, Hand- und Fingerabdrücke erstellt, umfangreiche Erbtafeln angelegt. Gelegentlich wurden auch Haarproben entnommen, Blutuntersuchungen durchgeführt und Gipsabdrücke angefertigt. Kopf, Hände, Nasenhöhlen wurden fotografiert, teilweise in den damals noch seltenen Farbdias. All dies wurde in verschiedenen Karteien erfasst. Die so ermittelten Materialien bildeten die Grundlage für »Gutachterliche Äußerungen«, die über Leben und Tod entscheiden konnten. Die Arbeiten der »Forschungsstelle « bildeten somit ein Instrument der »Auslese«, die im Genozid endete.
Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde im Berliner Reichssicherheitshauptamt die Deportation aller Juden und auch aller Sinti und Roma aus dem Deutschen Reich in das besetzte Polen geplant. Damit verschärfte sich die Verfolgung und Unterdrückung der Sinti und Roma nochmals. Eine erste Verschleppung ganzer Familien wurde im Mai 1940 von den Kripostellen und der »Rassenhygienischen Forschungsstelle « umgesetzt: Rund 2500 Sinti und Roma wurden in Hamburg, bei Stuttgart und in Köln konzentriert und anschließend deportiert. In Köln begannen die Festnahmen am 16. Mai 1940.
Im sogenannten »Generalgouvernement« wurden die Deportierten in provisorische Unterkünfte eingewiesen und zu schwerster Zwangsarbeit heranzogen, etwa zum Bau von Grenzbefestigungen, Straßen, Flugplätzen und Lagern. Mitte 1942 wurden die meisten in Ghettos eingewiesen.
Mit dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 trat die nationalsozialistische Rassenpolitik in eine grundlegend neue Phase ein: Nun begannen die systematischen Morde, zunächst in den besetzten Gebieten an Ort und Stelle, dann in eigens dafür errichteten Vernichtungslagern. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes sowie Einheiten der Wehrmacht und der Ordnungspolizei ermordeten unmittelbar hinter der deutschen Front neben Juden auch Zehntausende Sinti und Roma. Im Dezember 1942 befahl Himmler, alle noch verbliebenen Sinti und Roma zu deportieren.
Seit Ende Februar 1943 wurden insgesamt rund 22.600 Sinti und Roma in das Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Im Vernichtungslager Auschwitz- Birkenau (Auschwitz II) wurde ein »Zigeunerfamilienlager « errichtet, das aus 32 Holzbaracken bestand. Viele Tausende starben innerhalb kurzer Zeit in dem hoffnungslos überfüllten Lagerbereich an Hunger oder Seuchen wie Fleckfieber und Typhus oder wurden Opfer von Gewalttaten der SS-Bewacher. Vor allem die Kindersterblichkeit war extrem hoch. Zwillingspaare wurden von Josef Mengele zu medizinischen Experimenten missbraucht. In der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wurden alle 2.897 Roma, die bis dahin überlebt hatten, in den Gaskammern ermordet. Mehr als 19.300 der etwa 22.600 in Auschwitz internierten Zigeuner starben. Die Gesamtzahl der ermordeten Sinti und Roma aus elf europäischen Ländern ist bis heute nicht bekannt. Sie wird auf 220.000 bis 500.000 Menschen geschätzt.